Das Betreuungsgeld – was sagt die Wissenschaft zum Einfluss auf Kinder, Mütter und Väter? Nachgefragt bei Nora Reich vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut
Am 15. Juni 2012 hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Betreuungsgeldes in den Deutschen Bundestag eingebracht. Laut diesem Gesetz sollen Eltern, welche nach dem Ende der Elternzeit und vor dem dritten Geburtstag des Kindes keinen Platz in einer Kita oder bei Tageseltern in Anspruch nehmen, monatlich zunächst 100 € erhalten. Seitdem die Idee des Betreuungsgeldes von der CDU verbreitet wurde, und dementsprechend im Koalitionsvertrag der aktuell regierenden Parteien verankert ist, regt sich breiter Widerstand gegen das Betreuungsgeld. Von den Regierungspartnern ist nur noch die CSU gänzlich von dem Vorhaben überzeugt, während die FDP und Teile der CDU sich inzwischen entschieden dagegen aussprechen, und daher einer Meinung mit den Oppositionsparteien sind. Ebenso skeptisch gegenüber dem Betreuungsgeld haben sich zahlreiche weitere Gruppierungen geäußert – vom Arbeitgeberverband zu den Gewerkschaften, von Kinderschutzorganisationen zu Bildungsforschern, von internationalen Organisationen wie die OECD zu EU-Politikern. Selten herrscht über so eine heterogene Masse eine so starke Einigkeit. Denn die Fakten sprechen gegen das Betreuungsgeld. Nora Reich, Wissenschaftlerin am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), promoviert im Bereich Familienökonomie. Schon seit 2008 beschäftigt sie sich mit den wissenschaftlichen Details zum Betreuungsgeld, also kurz nachdem die Idee der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
„Empirische Analysen zur Wirkung des Betreuungsgeldes liegen zum einen für Finnland und Norwegen vor, wo diese Maßnahme Ende der 1990er Jahre eingeführt wurde,“ erklärt Nora Reich, „Zudem gibt es eine Untersuchung zum Landeserziehungsgeld in Sachsen, eine Simulationsstudie zum Betreuungsgeld von ZEW und Beobachtungen zur Wirkung des deutschen Bundeserziehungsgeldes, welches Eltern von 1996 bis 2006 in Deutschland erhielten.“ Nora Reich hat diese Studien ausgewertet.
„Das Betreuungsgeld wird zwar an Familien ausgegeben, aber angesichts der Tatsache, dass Mütter hierzulande meist die Hauptverantwortlichen für die Kindererziehung sind, und sie häufig weniger verdienen als ihre Partner, ist davon auszugehen, dass vor allem die Mütter die nicht in Anspruch genommenen Kita-Stunden ersetzen müssen,“ erläutert Nora Reich. So hänge auch die Inanspruchnahme der Elternzeit von Vätern maßgeblich von den Einkommensdifferenzen der Elternteile ab. Das hat Nora Reich in einer Analyse von Daten des Mikrozensus gezeigt.
(Links: http://muse.jhu.edu/login?auth=0&type=summary&url=/journals/population_review/v050/50.2.reich.pdf, http://www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/HWWI_Update_08.10.pdf)
Der negative Effekt des Betreuungsgeldes auf die Müttererwerbstätigkeit sei überdies für Norwegen und Finnland nachgewiesen. In Finnland beispielsweise, nahmen es in 99 Prozent der Fälle die Mütter in Anspruch. Dadurch ist die Erwerbsquote von Müttern mit Kindern unter drei Jahren von 67 Prozent im Jahr 1989 auf 48 Prozent im Jahr 1995 zurückgegangen. Die Einführung des Betreuungsgeldes führte bei Müttern sogar zu einer geringeren Eintrittsrate in die Berufstätigkeit. Auch in Norwegen sind es hauptsächlich Mütter, die das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen. Nora Reich weist außerdem darauf hin, dass auch die Simulationsstudie für Deutschland gezeigt hat, dass sich einige Mütter durch die Einführung des Betreuungsgeldes aus dem Berufsleben zurückziehen würden. „Die Erwerbsquote von Frauen liegt in Deutschland mit 71,1% deutlich unter derer der Männer mit 82%, und sie hinkt auch stark den europäischen Vorreitern Island und Dänemark hinterher,“ gibt Nora Reich zu bedenken, „Jetzt eine Maßnahme einzuführen, welche die Errungenschaften der letzten Jahre konterkariert, ist absurd.“ Nora Reich gibt dabei zu bedenken, dass sich die negativen Auswirkungen nicht nur auf Mütter beschränken. Je länger eine Frau aus dem Berufsleben pausiere, desto geringer seien die Chancen auf eine erfolgreiche Weiterführung der Erwerbstätigkeit. Unter Umständen, das heißt wenn die Familie dadurch in die Bedürftigkeit abrutscht, muss der Steuerzahler für den langfristigen Einkommenseinbruch aufkommen, der übrigens schon die Kosten des Betreuungsgeldes und der nun nicht genutzten Bildung der Frau übernommen hat. Nach Nora Reich ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass das Betreuungsgeld den Anteil bedürftiger Familien weiter erhöht. „In Finnland und Norwegen sind es besonders Frauen mit einem geringen Bildungsniveau und mit Migrationshintergrund, welche das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen. Auch die Ergebnisse der ZEW-Simulation und der Auswertung des Sächsischen Landeserziehungsgeldes weisen darauf hin,“ weiß Nora Reich. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zeige, dass eine kurze Erwerbspause der Mutter die Mütter- und Kinderarmut verringert. Außerdem würden Staaten mit einer hohen institutionellen Kinderbetreuungsquote nicht nur eine höhere Müttererwerbstätigkeit, sondern auch eine geringere Kinderarmut aufweisen. Nora Reich befürchtet dadurch das Lostreten eines Teufelskreises: „Wenn Mütter nach der Elternzeit das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen, mag das ein Zeichen für Betriebe sein, vorsichtig bei der Einstellung oder Beförderung von Müttern und potenziellen Müttern zu sein, um keine unnützen Kosten zu produzieren. Das wiederum verringert die Chancen für alle Frauen auf dem Arbeitsmarkt, welches einen weiteren negativen Effekt auf die Frauenerwerbstätigkeit haben kann. Der Anstieg in der Elternzeitinanspruchnahme von Vätern hat hier in den letzten Jahren das wichtige Signal gesetzt, dass potenziell alle Bewerber und Mitarbeiter eine geburtsbedingte Auszeit nutzen können.“ Doch nicht nur auf Frauen kann sich das Betreuungsgeld nachteilig auswirken, wie Nora Reich betont. „Des Weiteren birgt das Betreuungsgeld Risiken für die Bildung der Kinder. Denn für Deutschland wurde gezeigt, dass der Bildungserfolg eng mit dem Elternhaus zusammenhängt. Kinder aus bildungsfernen Familien und solchen, in denen kaum deutsch gesprochen wird, könnten weitere Opfer des Betreuungsgeldes sein. Daher spricht sich ja sogar der Deutsche Kinderschutzbund gegen das Betreuungsgeld aus. In Schweden wurde die Einführung eines Betreuungsgeldes diskutiert, letztlich aber von der Einführung abgesehen. Denn in diesem Land ist die Betreuung von Kleinkindern in öffentlichen Einrichtungen ein fester Bestandteil des Bildungssystems. Maßnahmen, die potenziell zu einer geringeren Zahl von Kindern in Kitas führen könnte, würde der Infragestellung des Bildungssystems entsprechen,“
ergänzt Nora Reich. Gerade vor dem Hintergrund des demografischen und des wirtschaftsstrukturellen Wandels, die mit einer steigenden Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften einhergehen, sei eine Maßnahme, die potenziell negative Effekte auf die Bildung der nächsten Generation hat, abzulehnen, so Nora Reich.
Nora Reich vermutet auch, dass sich durch die Einführung des Betreuungsgeldes die mütterliche Zeit für ihre Kinder nicht wesentlich erhöht und sich zudem das väterliche Engagement kontraproduktiv entwickelt. „Erstens zeigt eine Studie für Deutschland, dass in Teilzeit erwerbstätige Mütter nur 33 Minuten, Vollzeit erwerbstätige Mütter gut 50 Minuten weniger Kinderbetreuung leisten als nicht erwerbstätige Mütter. Die Aufgabe von Arbeitsstunden wird also bei weitem nicht eins zu eins in Kinderbetreuung konvertiert. Zweitens gibt es zahlreiche wissenschaftliche Anhaltspunkte dafür, dass Kinder davon profitieren, Zeit mit ihren Vätern zu verbringen. Die Einführung des Bundeselterngeldes im Jahr 2007 hat einen rasanten Anstieg des Anteils von Vätern, die Elternzeit in Anspruch nehmen, hervorgerufen. Wenn Mütter nach der Elternzeit die Betreuungszeit in Anspruch nehmen, mag sich so manches Elternpaar überlegen, ob die Erwerbspause des Vaters zwischendurch notwendig ist. Die Leittragenden könnten auch hier wieder die Kinder sein,“ befürchtet Nora Reich.
Angesichts der vielfältigen Nachteile, die das Betreuungsgeld laut einschlägigen wissenschaftlichen Studien – für Mütter, Väter, Kinder, Betriebe und den Staat – mit sich bringt, bleibt zu hoffen, dass das Gesetz in letzter Minute gekippt wird.